„Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“ – Der 4. Präsenz-Trialog zu psychischen Erkrankungen im Vitos Klinikum Bad Soden.

Konfrontiert mit einer psychischen Erkrankung gelangen die Betroffenen selbst, deren Angehörige und die Behandelnden oftmals zu der Frage, wie eine Veränderung gelingen kann. Die Versuchung, dafür am sprichwörtlichen Gras zu ziehen, um möglichst schnell Fortschritte zu sehen, kann dabei auf allen Seiten sehr groß sein. Doch ist das wirklich sinnvoll? Mit dieser Frage haben wir den 4. Präsenz-Trialog am 3. Juli 2025 begonnen und gelangten so zu Gesprächen über Geduld, Akzeptanz und Widerstände auf Wegen der Veränderung. Relativ schnell wurde klar, dass diese Themen uns alle betreffen. 

Im Gespräch stellten wir fest, dass der Wunsch, Heilung erzwingen zu wollen, zu Überforderung, von uns selbst oder vom Gegenüber führen kann, egal ob wir aus wohlmeinender Fürsorge, oder Frustration handeln. Im Gegenteil, Überforderung kann uns daran hindern, es überhaupt zu versuchen. Auch eine weitere Blockade kam zur Sprache: Veränderung muss von den Betroffenen selbst gewollt sein – doch das ist oft schwer. Wer sich auf diesen Weg begibt, wird oftmals von der Angst begleitet, zu scheitern und damit auch Angehörige oder Behandelnde zu enttäuschen. Paradoxerweise kann auch die Heilung selbst verunsichern: Betroffene fürchten sich davor, wie sich ihre Beziehungen verändern könnten, etwa weil mit der Krankheit auch Zuneigung und Hilfe verschwinden könnten. Nicht nur die Heilung, auch der „Verlust“ der Krankheit kann furchteinflößend sein. Denn damit kann gefühlt ein weiterer Verlust einhergehen, der von Identifikation und Identität – besonders dann, wenn eine Erkrankung Jahre, vielleicht ein Leben lang, bestand. In einigen Fällen bedeutet auf Veränderungen hinzuarbeiten, sich auf den Weg in Richtung Ungewissheit zu machen, denn wenn  es kein „vor der Krankheit“ gibt, ist Heilung ein unbekannter Zustand. Einige Betroffene schilderten den Zwiespalt, zwischen dringlichem Veränderungswunsch und diesen Ängsten, gut zu kennen. Außenstehenden kann helfen, zu verstehen, dass psychische Erkrankungen oft eine Funktion erfüllt haben, was Ängste und Konflikte erklärt, wenn es darum geht gegen die Erkrankung vorzugehen. Diese Perspektive kann dabei helfen Betroffenen mit mehr Empathie zu begegnen und mehr Geduld für sie aufzubringen. 

Geduldig zu bleiben, kann für Angehörige unglaublich schwer und schmerzhaft sein. Doch auch wenn es sich vermeintlich besser anfühlen würde „am Gras zu ziehen“ oder einfach wegzurennen, hilft es vielen Betroffenen, wenn ihre Liebsten ihnen Zuversicht und das Gefühl geben, nicht mit der Erkrankung allein zu sein, gewissermaßen gemeinsam mit ihnen „Verharren“ . Für betroffene Personen kann das zwar wichtig sein, aber nicht um jeden Preis: Angehörige dürfen ihre eigenen Grenzen wahren und sollten immer auch auf ihre eigene (mentale) Gesundheit Rücksicht nehmen – diese Selbstfürsorge ist letztendlich auch im Sinne der Betroffenen.

Die Gratwanderung zwischen Dasein und Abgrenzung stellt Angehörige oft vor schwierige Entscheidungen. Wann ist Nähe hilfreich – und wann wird sie zur Belastung, für einen selbst oder das Gegenüber? Gerade weil es keine eindeutigen Antworten gibt, drängen sich immer wieder Fragen auf: Doch wie viel Geduld ist das richtige Maß? Was ist die Aufgabe, die Verantwortung, die Rolle als angehörige Person? Einige Angehörige erzählten vom Gefühl, nur hinzuschauen würde jegliche Verbesserung untergraben, quasi „das Gras eingehen lassen“. Andere fürchten ohne ihr Zutun würde sich nichts verändern. Auch unter Betroffenen unterschieden sich die Meinungen. Auch unter Betroffenen gingen die Meinungen auseinander: Manche äußerten, sie möchten nicht wie ein „rohes Ei“ behandelt werden, andere schildern Druck durch Angehörige als belastender. Die Einschätzungen, was hilfreich ist, gehen stark auseinander und hängen nicht zuletzt auch davon ab, von wem ein bestimmter Impuls kommt: Therapeutin, Freund oder Mutter. Leider scheint es also keine universale Anleitung zu geben, die für jedes Individuum und all seine Beziehungen gilt. Wir stellten fest: Hilfreiches Verhalten kann sehr verschieden aussehen und um im Einzelfall gemeinsame Lösungen und Wege zu finden, ist ein ehrliches Gespräch – mit Rücksicht auf die Kapazitäten aller Beteiligten – oft der beste Anfang. 

Während des Trialogs haben wir herausgefunden, dass es viele Widerstände auf dem Weg der Besserung gibt, die sich nicht dadurch auflösen, wenn wir sprichwörtlich am Gras ziehen. Wachstum zu begleiten, kann im Einzelfall verschieden aussehen, erfordert aber in der Regel Geduld und Anstrengung. Daher spielen der Umgang mit Ängsten, sowie offene Kommunikation und Selbstfürsorge auf Wegen der Besserung eine zentrale Rolle.