Wie es mittlerweile schon zu einer kleinen Tradition geworden ist, begann auch der 5. Präsenz-Trialog im Vitos-Klinikum Bad Soden mit einem kontroversen Spruch. Dieses Mal lautete dieser: „Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht.“
Schnell assoziierten die ersten Teilnehmenden „offen für alles zu sein“ mit einem unsicheren Selbstbild und einem Identitätsproblem. Insbesondere Betroffene berichteten, nachvollziehen zu können, dass jemand mit einem schwachen Ich-Gefühl und Identitätsunsicherheiten als „offen“, im Sinne von „grenzenlos“ erscheinen mag. Zudem brachten Teilnehmende ein, es falle ihnen auch ohne ein solches Problem schwer, sich authentisch zu zeigen und damit auch für sich einzustehen. „Für alles offen zu sein“, kann so gesehen auch eine Strategie sein, um ein Gefühl der Ablehnung oder Konflikte zu vermeiden. Der Wunsch „gefallen zu wollen“ kann so stark sein, dass Menschen sich in ihren Beziehungen kaum zu erkennen geben, weil sie nur das Gegenüber spiegeln. Jedoch verhindert das, vom Gegenüber wirklich wahrgenommen zu werden, wodurch auch die Erfahrung ausbleibt, vom Gegenüber für die Person angenommen und geschätzt zu werden, die man tatsächlich ist. In diesem Kontext kam die Frage auf, warum es manchen so schwerfalle, die eigenen Grenzen oder Bedürfnisse zu respektieren. Besonders Betroffene erklärten, es falle ihnen schwer, die eigenen Grenzen (rechtzeitig) zu erkennen, etwa durch die zuvor angesprochene Identitätsproblematik. Andere erklärten, Ängste vor Konflikten und dem Verlassenwerden oder die Intensität der eigenen Gefühle, würden es Ihnen schwer machen für sich einzustehen.
Das Thema „Grenzen setzen“ schien Betroffene, Angehörige und Profis gleichermaßen zu beschäftigen. Auch wenn die Unterschiede, der verschiedenen Perspektiven betont wurden, schienen die meisten Anwesenden, ungeachtet ihrer Perspektive schonmal erfahren zu haben wie herausfordernd es sein kann Grenzen zu setzen. Je nach Kontext ist sowohl das Setzten eigener Grenzen als auch das Respektieren der Grenzen des Gegenübers unterschiedlich kompliziert. So bringt beispielsweise eine enge Beziehung unweigerlich mehr Emotionalität mit sich als ein professionelles Verhältnis. Letztendlich führt in einer langfristig stabilen Beziehung kein Weg daran vorbei Grenzen zu setzten und zu respektieren. Präzise und klare Kommunikation ist hierbei hilfreich, auch wenn das nicht immer leichtfällt.
Wie schwierig es sein kann, Beziehungen zu navigieren, wenn viele Gefühle im Spiel sind, konnten wir auch in der Gesprächsrunde erleben. Viel wichtiger aber war die gemeinsame Erfahrung, dass wir Anspannung und intensive Emotionen selbst regulieren können. Dies ist eine grundlegende Fertigkeit, um Konflikte vorzubeugen und zu deeskalieren. Zudem ist das ein zentraler Bestandteil von Therapien, wie beispielsweise der DBT. Gewissermaßen konnten wir also hautnah erleben, wie Skills funktionieren und sich Hochspannung regulieren lässt. Gemeinsam haben wir pausiert und uns die Zeit genommen bewusst durchzuatmen, um wieder einen kühlen Kopf zu bekommen und zurück ins Gespräch zu finden.
Nicht nur in Gruppen, ist der Umgang mit starken Emotionen herausfordernd. Viele Angehörige erleben dies gerade dann, wenn sie sich verzweifelt wünschen einer betroffenen Person helfen zu können, aber dabei an Grenzen geraten. Selbst wenn Angehörige bereit sind zuzuhören, zu lernen und zu helfen, sind ihnen die Hände gebunden wenn ihr Gegenüber (noch) nicht bereit ist ihre Unterstützung anzunehmen. Dieses Dilemma kann Angehörige nachvollziehbarerweise sehr ratlos und verzweifelt zurücklassen, besonders wenn noch begründete Sorgen um einen lieben Menschen hinzukommen. In diesem Fall ist wohl am wichtigsten, sich gut um sich selbst zu kümmern: Denn nur wer auch auf sich selbst achtet, kann langfristig unterstützend sein und Hilfe leisten, wenn sich die Situation doch noch ändert.
Im Verlauf des Trialogs wurde deutlich, dass Offenheit auch positiv gedeutet werden kann, etwa als Toleranz für verschiedene Meinungen. Hier stellten wir aber auch fest, dass Offenheit nicht gleichbedeutend damit ist, alle Meinung gleichwertig zu behandeln und zu akzeptieren. Toleranz schließt Grenzen nicht aus, sondern erfordert sie geradezu, insbesondere dort wo die Würde anderer berührt wird. Insgesamt schienen alle Anwesenden auch Positives mit dem „offen sein“ zu verbinden. Bezogen auf den Umgang mit Erkrankungen lohnt sich womöglich ein Perspektivwechsel, vielleicht ist es so: „Wer nicht ganz dicht ist, ist offener“. Denkbar wäre ja, dass die Konfrontation mit einer Erkrankung den eigenen Horizont erweitert. Möglicherweise führt diese Erfahrung dazu, dass Angehörige, Betroffene und Helfende mehr Verständnis, Geduld und Empathie aufbringen können als andere. Zumindest teilen sie wohl die Erfahrung, wie wertvoll es ist, wenn Menschen sich offen und ohne Vorurteile entgegentreten.